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Titel
Pythagoras in der Spätantike. Studien zu De Vita Pythagorica des Iamblichos von Chalkis


Autor(en)
Staab, Gregor
Reihe
Beiträge zur Altertumskunde 165
Erschienen
München 2002: K.G. Saur
Anzahl Seiten
543 S.
Preis
€ 98,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Irmgard Männlein-Robert, Institut für Klassische Philologie, Bayrische Julius-Maximilians-Universität Würzburg

Die Vita Pythagorica des Iamblich von Chalkis ist nicht als eigenständige biografische Schrift über Pythagoras von Samos, sondern als das erste Buch eines wahrscheinlich auf zehn Bücher angelegten Werkes konzipiert, das schrittweise und mit zunehmenden Schwierigkeits- und Abstraktionsgraden in die verschiedenen Bereiche der Pythagoreischen Philosophie einführt. Als integrativer Bestandteil eines umfassenden Kompendiums stellt die Vita Pythagorica eine didaktisch strukturierte Einführung in ein komplexes und anspruchsvolles philosophisches System dar, das der neuplatonische Philosoph Iamblich wohl zu Beginn des 4. Jahrhunderts n.Chr. für seine Schüler und für Anfänger in der platonischen Philosophie überhaupt verfasste. Pythagoras ist von Iamblich als programmatische Gründerfigur eines letztlich religiös verstandenen Platonismus, als Archeget einer umfassenden, Lebensführung, Charakterbildung und intellektuelle Bildung miteinschließenden ganzheitlichen Philosophie inszeniert und stilisiert worden. Die eigenwillig gestaltete und lange in ihrem geistesgeschichtlichen wie literarischen Wert verkannte Vita Pythagorica verrät somit wesentlich mehr über Iamblichs eigene Intentionen und sein Konzept von Platonismus als über den nurmehr schwer greifbaren historischen Pythagoras selbst.1

Gregor Staab hat mit seiner umfangreichen Jenenser Dissertationsschrift einen wichtigen Beitrag zum kaiserzeitlichen und spätantiken Platonismus vorgelegt. In einem einführenden Kapitel formuliert der Autor seine Richtlinien für die Interpretation der Pythagoras-Vita: Klar distanziert er sich von rein quellenanalytisch orientierten Ansätzen und entwickelt eine differenzierte Interpretationsstruktur. Staab entwirft zwar eine biografische Skizze des rätselhaften historischen Pythagoras, stellt ins Zentrum seiner Untersuchung jedoch die Funktionalisierung von dessen Person und Lehre sowie der bisherigen (neu-)pythagoreischen Tradition bei Iamblich. Generell wandelt Staab auf den Spuren, die zuerst von Michael von Albrecht 2 und Dominique O'Meara gelegt worden sind.3 Vor allem von Albrecht hatte diese Schrift nicht als undifferenziertes Konglomerat von Informationen über Pythagoras abgewertet, sondern erstmals als philosophiegeschichtliches Zeugnis sui generis anerkannt. Staabs Verdienst liegt darin, die Vita Pythagorica nicht nur innerhalb des Oeuvres Iamblichs, sondern vor allem auch mit der Literatur konkurrierender Platoniker wie Porphyrios sowie der Tradition des kaiserzeitlichen Platonismus und Neupythagoreismus engmaschig zu vernetzen. Nicht berücksichtigt ist von Staab das 2001 erschienene Buch über Pythagoras und Pythagoreer von Charles Kahn4, das, freilich in ungleich knapperer Form, bereits eine ähnliche Tendenz aufweist und die Umformung des pythagoreischen Gedankengutes bei Platon selbst darstellt sowie die neupythagoreische Tradition bei den Platonikern Moderatos, Nikomachos und Numenios umreißt. Staabs Buch stellt jedoch eine differenzierte und würdige Ergänzung zu Kahn dar, dessen Schwerpunkt erkennbar auf pythagoreischen Tendenzen bei Platon selbst liegt, während Staab die Vita Pythagorica Iamblichs dezidiert in den Vordergrund stellt und einer systematischen philologischen wie philosophischen Untersuchung unterzieht.

Im ersten Hauptkapitel ("I. Teil: Pythagoras in Tradition und Neuerung") bietet Staab einen Überblick über die pythagoreische Literatur vor Iamblich mit einem Schwerpunkt auf der kaiserzeitlichen neupythagoreischen Literatur. Dabei erfolgt zunehmend eine Annäherung an die Pythagoras-Viten des Diogenes Laertios und des Porphyrios. In einem Exkurs (I.4.) untersucht er auch die Vita Plotini des Porphyrios; in diesem Kapitel beschreibt er wichtige Rahmenbedingungen der philosophischen Biografie des späten 3. Jahrhunderts n.Chr., die sich vor allem durch hagiografische sowie philosophisch-systematische Tendenzen und dezidierte Abgrenzungsversuche gegenüber dem Christentum und der christlichen Hagiografie auszeichnet. Leider würdigt Staab nicht die bereits in dieser Vita maßgeblich vorgeprägten, von Iamblich dann für seine Vita Pythagorica übernommenen isagogischen Strukturen. Diese geben weit über die editorische Einführung in das Œuvre Plotins hinaus auch Aufschluss über das philosophische Leben und Denken Plotins.5

Das zweite große Kapitel ("II. Teil: Der Autor und sein Werk") widmet sich Iamblich als platonischem Philosophen plotinischer Prägung sowie der philosophischen Systematik Iamblichs mit Schwerpunkt auf der Ethik. Staab behandelt hier den Großen Alkibiades, der Iamblich als genuines Werk Platons galt, als grundlegende Schrift für Iamblich. Die damit von Iamblich begründete Tradition wird dann von weiteren Neuplatonikern wie Syrian, Proklos und anderen fortgeführt. Der Große Alkibiades, der vor allem das Thema der Selbsterkenntnis und Selbstsorge behandelt, eröffnet fortan als Einstiegslektüre den Lektürekanon eines Adepten der (neu-)platonischen Philosophie.6 Weiterhin bietet Staab eine Darstellung des Gesamtproömiums der Vita Pythagorica, das er zunächst quellenanalytisch untersucht, dann die Unabhängigkeit Iamblichs von Porphyrios' Pythagorasvita herausstreicht; freilich wäre an dieser Stelle ein erneuter kurzer Rekurs auf dessen Vita Plotini nützlich gewesen, deren Stilisierung Plotins als paradeigmatischem Philosophen durchaus bei Iamblich nachwirkt. Erst im letzten Kapitel (IV, s.u.) geht Staab darauf ein, dass Iamblich mit dem Beginn seines Pythagoreismuskompendiums ein erklärtes Gegenkonzept zu Porphyrios' Vita Plotini entwirft.

Im dritten Hauptkapitel ("III. Teil: Strukturanalyse mit Teilkommentierung der Vita Pythagorica") stehen die Struktur des Textes der Vita Pythagorica Iamblichs sowie dessen Intention für diese Struktur im Fokus der Darstellung Staabs. Nach einer Biografie des Pythagoras im engeren Sinne geht es vor allem um die Paideia des Pythagoras. Sie ist als umfassendes Erziehungskonzept dargestellt, das ganz besonders Frömmigkeit/eusebeia, Weisheit/sophia, Gerechtigkeit/dikaiosyne, Besonnenheit/sophrosyne, Tapferkeit/andreia und Freundesliebe/philia als Tugenden des Pythagoras beschreibt. Staab setzt sich hier mit den Strukturierungsbemühungen früherer Forscher kritisch auseinander; dabei gelingt ihm über die differenzierte Interpretation der Kompositionstechnik dieser Schrift eine geistesgeschichtliche Phänomenbeschreibung der Vita Pythagorica Iamblichs.

In einem nützlichen Abschlusskapitel ("IV. Teil: Ergebnisse") fasst Staab die Ergebnisse aus seinen vielfach untergliederten Großkapiteln zusammen und nimmt dabei vor allem gattungstypologische Fragen auf. Er verweist nachdrücklich auf Iamblichs Stilisierung des Pythagoras als 'erstem' Philosophen sowie seiner Lehre als praeparatio philosophica überhaupt. Nicht nur die Lehren Platons, sondern auch die von Peripatos und Stoa wurzelten letztlich in der Philosophie des Pythagoras, so Iamblichs Philosophiesynthese.

Anhand der philologisch wie philosophisch fundierten Darlegungen Staabs wird deutlich, dass der Weise und 'heilige Mann' Pythagoras als ideologische Leitfigur für eine vom neuplatonischen Standpunkt aus als ideal angesehene philosophische Lebensweise dient. Dabei ergeben sich durchaus praktische Implikationen, da eine Nachahmung des 'pythagoreischen Lebens' bzw. der 'pythagoreischen Lebensführung' nicht nur als möglich und nachahmenswert vorgeführt wird. Die Vita versteht sich als isagogisches Werk mit konkretem lebensweltlichem Bezug; sie dient dabei als Werbeschrift für Iamblichs eigenes philosophisches System, die anhand der Gestalt des Protophilosophen Pythagoras in ihrem protreptischen und propädeutischen Charakter erkennbar wird. Abgerundet wird das Buch, das in ausgedehnten Fußnoten gelegentlich Konglomerate von Bezugsstellen häuft (siehe z.B. S. 39, Anm. 72), von einem Literaturverzeichnis und einem ausführlichen Stellenregister.

Der gute Eindruck, den dieses Buch beim Leser zweifelsohne hinterlässt, wird durch den mitunter übertriebenen didaktischen Gestus der allzu häufigen methodologischen Einführungen und Erklärungen nur wenig getrübt. Die Leistung Staabs liegt vor allem in der gründlichen Recherche, der sachkundigen und ausgewogenen Diskussion und Präsentation eines hochkomplexen philosophischen Konzeptes und seiner Einbettung und Vernetzung in die platonische Tradition wie die zeitgenössische philosophische Szene. Während das im gleichen Jahr erschienene SAPERE-Bändchen zur Vita Pythagorica Iamblichs einen attraktiven und fundierten Einstieg in Iamblichs Philosophiekonzeption und seine Welt vermittelt7, stellt Staabs Dissertationsschrift eine gehaltvolle Lektüre eher für die avancierten Kenner kaiserzeitlicher und spätantiker platonischer Philosophie dar.

Anmerkungen:
1 Siehe jetzt auch Riedweg, C., Pythagoras. Leben - Lehre - Nachwirkung. Eine Einführung, München 2002, der den historischen Pythagoras als Weisen sowie in seinem wissenschaftlichen Profil zu rekonstruieren versucht.
2 Albrecht, M. v. (Hg.), Iamblichos, Pythagoras: Legende, Lehre, Lebensgestaltung, Zürich 1963; Ders., Das Menschenbild in Iamblichs Darstellung der pythagoreischen Lebensform, A & A 12 (1966), S. 51-63.
3 O'Meara, D. J., Pythagoras Revived. Mathematics and Philosophy in Late Philosophy, Oxford 1989.
4 Kahn, Ch., Pythagoras and the Pythagoreans: A Brief History, Indianapolis 2001.
5 Dazu siehe Männlein-Robert, I., Biographie, Hagiographie, Autobiographie - Die Vita Plotini des Porphyrios, in: Kobusch, T.; Erler, M.; Männlein-Robert, I. (Hgg.), Metaphysik und Religion. Zur Signatur des spätantiken Denkens, München 2002, S. 581-609.
6 Zu dessen pädagogischem Charakter siehe auch Hadot, I., Der fortlaufende philosophische Kommentar, in: Geerlings, W.; Schulze, Ch. (Hgg.), Der Kommentar in Antike und Mittelalter. Beiträge zu seiner Erforschung (Clavis Commentariorum antiquitatis et medii aevi 2), Leiden 2002, S. 183-199, hier S. 192ff.
7 Iamblich, PERI TOU PYTHAGOREIOU BIOU. Pythagoras: Legende - Lehre - Lebensgestaltung (SAPERE IV). Eingeleitet, übersetzt und mit interpretierenden Essays versehen von M. v. Albrecht, J. Dillon, M. George, M. Lurje, D. S. du Toit, Darmstadt 2002.

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